Es schlägt 05:30 Uhr morgens, als wir bei völliger Dunkelheit von der Lienzer Hütte in Richtung Glödis aufbrechen. Nur der Schein der Stirnlampe lässt uns wenige Umrisse erkennen. Umso mehr sind die anderen Sinnesorgane geschärft. Ich bemerke, wie ich Geräusche und Gerüche viel intensiver wahrnehme. Die Stimmung ist mystisch und einsam. Ein Nervenkitzel, den ich heute zum ersten Mal an der eigenen Haut spüre. „Siehst du das auch dort oben?“, bleibe ich plötzlich irritiert stehen. Am Himmel zeigt sich ein vermeintlicher Stern, der viel intensiver leuchtet als die anderen. „Was kann das wohl sein?“, frage ich mich. „Da steigt jemand zum Gipfel hoch“, stelle ich Sekunden später verdutzt fest. Im Schutze der Dunkelheit kämpfen sich die ersten Bergsteiger den steilen Gipfelgrat empor. „Nicht mehr lange und dann sind wir auch dort oben“, flüstere ich.
Inhaltsverzeichnis
Spiegelein, Spieglein an der Wand
In meinem Kopfkino drücke ich die imaginäre Vorspultaste und katapultiere mich gedanklich in die Zukunft. Ich stelle mir vor, wie es wohl sein wird, selbst am Gipfel zu stehen. Dieses süße Gefühl der Vorfreude versetzt mich in einen betörenden Rausch. Die reale Welt verschwimmt im Nichts, während ich scheinbar federleicht davonschwebe.
Die aufgehende Sonne gibt immer mehr von der märchenhaften Landschaft preis. Ich recke meinen Kopf zum Glödis, dessen pyramidenförmige Felsgestalt an das Matterhorn erinnern soll. Er ist zwar nicht der höchste Gipfel der Schobergruppe, aber angeblich der Schönste. Rund eine Stunde wandern wir bereits über den Franz-Keil-Weg in Erinnerung an den bedeutenden Bergsteiger und Geoplastiker. Ein kurzes Blockfeld später stehen wir schließlich an der Wegscheide. Die Aufstiegsrichtung dreht sich nun nach Norden.
Berg | Glödis 3206 Meter Lienz, Tirol |
Klettersteig | Glödis-Klettersteig (B, Variante C) Zustieg: 4 Stunden Abstieg: 3 Stunden Kletterzeit: 1 Stunde Länge: 16 Kilometer Steighöhe: 230 Höhenmeter Gesamthöhe: 1530 Höhenmeter |
Hütte | Lienzer Hütte |
Anfahrt | Parkplatz Seichenbrunn Zum Google Maps Routenplaner |
Im Reich des Wassers
Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch das grasige und felsdurchsetzte Gelände. Wir überqueren eine kleine, eingebrochene Holzbrücke, während unter unseren Füßen der Debantbach in Richtung Tal plätschert. Nach einer zweiten Brücke führt der Pfad über blockiges Gelände steiler bergan. Das Konto unserer gesammelten Höhenmeter sieht bis hierher noch dürftig aus. Doch das ändert sich ab jetzt. Ausgetretene Serpentinen weisen uns den Weg zum Glödis. Die Muskelzellen reagieren auf die zunehmende Steigung und erhöhen ihr Arbeitspensum. Das Wolkenmeer liegt wie eine weiße Decke eingekesselt zwischen den imposanten Berghängen der Schobergruppe. Einfach atemberaubend ist es hier. So hoch über den Wolken fühlt man sich unweigerlich ein wenig erhaben und ich spüre förmlich, wie ich im Geiste ein paar Zentimeter wachse.
Triebfeder des Erfolgs
Auf etwa 2500 Metern teilt sich die Strecke zwischen Kalser Törl und Glödis. Der weitere Weg führt steil ansteigend über Geröll und Schutt, doch das tangiert mich heute nur peripher. Den Gipfel stets vor Augen, lodert ein Freudenfeuer in meiner Brust. Mein innerer Motor läuft im gleichmäßigen Takt und verleiht mir die nötige Schubkraft. Die Macht der Begeisterung treibt mich zu Höchstleistungen an. Der Gletscher hat sich soweit zurückgezogen, dass heute nur mehr die glatt geschliffenen Felsplatten an das ewige Eis erinnern. In direkter Linie überqueren wir die von der Last des sich absenkenden Eises polierten Felsen. Die letzten Meter zum Grat sind eine Herausforderung, doch die Motivation wirkt wie ein Zaubertrunk. Ich beiße die Zähne zusammen, obwohl meine Beine nach einer Pause trachten. Den Blick stur auf den Gipfelgrat gerichtet, kämpfe ich mich das Schotterfeld hinauf und über Stolpersteine hinweg. Oben angekommen, atme ich erleichtert auf.
Akrobatik im Fels
Schwungvoll ziehe ich den Klettergurt über meine Hüften. Wir stehen knapp unter 3000 Metern am Einstieg zum Klettersteig über den Südost-Grat. Ganz warm durchflutet mich von innen die Vorfreude. Der Klettersteig ist nicht besonders schwierig, dennoch bin ich noch nie in solchen Höhen geklettert. Der ehemalige Normalweg war eine heikle Angelegenheit in abschüssigem Gelände, sodass 2006 ein Klettersteig in den Fels geschlagen wurde. Die Route wurde dadurch kurzerhand von der Flanke auf den blockigen Grat versetzt. Soliden Drahtseilen sei Dank kann man den stolzen Dreitausender nun sicher erklimmen.
Spitze Felszacken ragen neben meinem Kopf empor. Riesige Felsplatten liegen übereinander geschichtet und türmen sich zu einem imposanten Gratgeflecht. Die Route verläuft zum Großteil direkt über dieses bizarre Felsgewirr, ist aber stets gut abgesichert. Der raue Fels bietet gute Griffe und Tritte. Ein ungehinderter Aus- und Tiefblick in alle Richtungen lässt mein Herz entflammen. In diesem Moment bin ich ganz mit mir im Reinen. Meine Augen funkeln vor Freude. Am liebsten würde ich mein Glück in die Welt hinausschreien. Die Schönheit der Bergszenerie blendet mich und umgarnt meine Seele. Eine Woge der Begeisterung erfasst mich mit all ihrer Wucht.
Die Mutprobe
Vorsichtig trete ich mit dem linken Fuß auf die wackeligen Metallschindeln. Unter der Last meines Gewichts pendelt die Brücke sogleich ein Stück nach links. Reflexartig steige ich mit dem rechten Fuß nach, um das Ungleichgewicht wieder auszubalancieren. Die Brücke klappert bei jedem meiner Schritte. Vor lauter Aufregung versagt meine Stimme. Mehr als Wortfetzen bringe ich nicht mehr hervor. Mein Mund fühlt sich ganz trocken an. Meine Muskeln vibrieren. Die Anspannung dringt in jede Pore meines Körpers. Trotz des Kloßes in meinem Hals ringe ich mir ein zaghaftes Lächeln ab. „Du weißt, dass du das schaffst“, spreche ich mir selbst Mut zu.
Mit jedem überwundenen Meter fasse ich mehr Vertrauen, fühle mich zusehends wohler in meiner Haut. Auf der anderen Seite angelangt, gilt es nur mehr eine kurze Leiter und eine ausgesetzte, steile Platte zu überwinden. Jegliche Zweifel schiebe ich beiseite und richte meinen Blick nur auf den nackten Fels. Wenige Züge später liegt die schwierigste Stelle des Klettersteiges hinter mir. Dieser Triumph erfüllt mich mit Stolz und hüllt mich in eine Wolke aus tiefster Zufriedenheit.
Gipfelschmaus mit Glocknerblick
Zwischen dem Zackengrat blitzt bereits das silberne Kreuz hervor. Kurz vor dem Ziel hole ich noch einmal tief Luft. Da ich mittlerweile schon etwas erschöpft bin, versuche ich, mich umso mehr zu konzentrieren. Ein letzter kräftiger Zug am Stahlseil, ein letzter schwungvoller Satz über die nächste Felsstufe. Schließlich stößt der Grat an die Felswand und wir stehen oben am Gipfel des Glödis. Die Sonne spiegelt sich in dem prächtigen Kruzifix. Das aus Metall hergestellte Gipfelkreuz wurde von Kalser Berg- und Skiführern und Kalser Bergrettern im Sommer 2011 neu errichtet. Für einen Bruchteil von Sekunden kann ich unser Glück nicht fassen. Ein Kaiserwetter, wie es nicht herrlicher sein könnte, begrüßt uns auf 3206 Metern Seehöhe.
Augenblick, verweile doch!
Das frühe Losgehen hat sich bezahlt gemacht. Nur wenige Gipfelaspiranten genießen bereits ihre wohlverdiente Jause. Seine Majestät der Großglockner zeigt sich in seiner ganzen Pracht. Die Sicht reicht von sämtlichen Gipfeln der Schobergruppe über den Großvenediger bis ins Steinerne Meer. Auch der Hochschober, welchen wir bei unserem ersten Besuch in der Schobergruppe bestiegen haben, streckt sich wie ein junger Gott in die Höhe. Das Panorama verdreht mir völlig den Kopf.
Ich knipse so viele Fotos wie schon lange nicht mehr. Jeder Winkel spielt seinen Trumpf aus, jede Bergspitze scheint sich heute in Schale geworfen zu haben. Schließlich lege ich mich erschöpft auf einen der Felsbrocken. Ich schließe die Augen und versuche, den Moment festzuhalten. Es ist einer dieser Zeitpunkte, die im besten Fall nie enden sollten. Wie ein leckeres Desert, bei dessen erstem Löffel man bereits bereut, dass dieser Genuss nicht ewig währt. Doch noch denke ich nicht an den Abstieg, sondern lasse mich gänzlich in den Bann dieses Augenblicks ziehen.
Fazit zur Tour: Abwechslungsreicher kann eine Bergtour kaum sein. Friedliche Gewässer wandeln sich zu dominanten Felsgetümen, gemütliche Wege werden zu einem Geröll-Parkett. Der Abschluss über den zackigen Gipfelgrat ist die Kirsche auf der Sahnetorte. Die Tour kann in den warmen Sommermonaten eisfrei begangen werden. Selbstverständlich sollte man sich immer vorab über die aktuellen Bedingungen informieren. Am Einstieg zum Klettersteig lassen viele Bergsteiger ihre Stöcke oder Rucksäcke zurück, um mit weniger Ballast zu klettern. Eine Übernachtung auf der Lienzer Hütte kann ich jedem empfehlen, der die Tour ein wenig gemütlicher starten möchte. Aufstiegs- und Abstiegsweg sind bei dieser Wanderung ident.
Die Zweitagestour im Überblick:
- Parkplatz Seichenbrunn (1673 m) – Lienzer Hütte (1977 m): 1,5 Stunden
- Lienzer Hütter – Glödis (3283 m): 4 Stunden
- Glödis – Lienzer Hütte: 3 bis 3,5 Stunden
- Lienzer Hütte – Parkplatz Seichenbrunn: 1 Stunde
Mein Tipp: Du kannst die Tour auf den Glödis mit der benachbarten Hochschoberhütte und einem Aufstieg auf den Hochschober (3242 m) kombinieren. Der Gipfel des Hochschobers liegt vier Gehstunden von der Lienzer Hütte entfernt.
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