Ein Dreitausender ohne Gletscherkontakt. Mit Blick auf einen türkisen Bergsee, der wie ein Edelstein funkelt. Umrahmt von formschönen Giganten aus Fels, Schnee und Eis. Mitten im Tiroler Stubaital gelegen, wo die Berge wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein Berg, der einfach zu erklimmen scheint und doch auf den letzten Metern nicht nur ein Ass aus dem Ärmel schüttelt. Während die Gletscher mir ihre Zungen zeigen, stehe ich im Schatten des Gipfelkreuzes der Rinnenspitze. Halte vor Aufregung den Atem an. Gefesselt von dem Eis, das sich wie ein weißes Band zwischen den Felsen hindurchschlängelt. Den imposanten Riesen, die sich die Hände reichen und einen Kreis um mich bilden. Lauthals höre ich sie rufen. Es klingt nach Freiheit und Ruhe. Nach einem Ort voller Glückseligkeit.
Berg | Rinnenspitze 3000 m Neustift im Stubaital, Tirol |
Wandern | Schwierigkeit: schwerer Bergweg mit Klettersteig Rinnenspitze-Steig (A/B) Dauer: 8 Stunden Länge: 13,6 Kilometer Aufstieg/Abstieg: 1300 Höhenmeter Höhenprofil & Karte |
Hütte | Franz-Senn-Hütte |
Anfahrt | Gebührenpflichtiger Parkplatz Oberrissalm Die Parkgebühr beträgt 5 Euro pro Tag bzw. 8 Euro für 2 Tage. (Stand 2021) Zum Google Maps Routenplaner |
Inhaltsverzeichnis
Jungfernfahrt im Stubaital
Da die meisten Hütten an diesem sonnigen Wochenende bereits ausgebucht sind, zieht es uns auf diesen schönen Aussichtsberg im Grenzkamm zwischen dem Alpeiner Tal und dem Gletscherbecken des Lüsener Fernerkogels. Die Tour auf die Rinnenspitze startet bei der Oberrissalm und führt moderat ansteigend über einen Serpentinenweg zur Franz-Senn-Hütte. In der Ferne pfeifen die „Mankei“, wie die Murmeltiere oftmals genannt werden. Unseren neugierigen Blicken entziehen sie sich aber gekonnt. Zu meiner Schande ist es meine erste Wanderung im Tiroler Stubaital. Doch wie sagt man so schön: „Besser spät als nie.“
Wir überqueren den Alpeiner Bach und marschieren über grasige Hänge in Richtung „Rinnensee – Rinnenspitze“. Je näher wir dem See kommen, desto leiser werden die Stimmen und umso lauter der Ruf der Wildnis. Felsen, die im ewigen Eis gefangen sind. Beeindruckende Bergspitzen, um die sich die Wolken wie ein dicker Schal winden. Die mächtigen Dreitausender erscheinen mir wie ein Tor in eine andere Welt. Unerbittlich, gefährlich, respekteinflößend und faszinierend zugleich. Magisch ziehen sie die Menschen an, die im Bezwingen ihrer steilen Wände wieder zu sich selbst finden.
Der große Auftritt
Wir lassen den Wanderweg hinter uns und betreten einen Teppich aus riesigen Felsbrocken, der bis zum Gipfelanstieg der Rinnenspitze reicht. Diese erhebt sich als majestätische Pyramide über dem Geröllmeer. Der Ostgrat ist durch ein Stahlseil entschärft, sodass man über den Klettersteig sicher auf die Spitze gelangt. Aus der Ferne kann ich die Bergsteiger erkennen, welche in einer Ameisenstraße dem Gipfel entgegenfiebern. Mittlerweile zeigt sich auch der Rinnensee als kräftiger Farbtupfer. Inmitten der grauen Steinwüste wirkt er mit seiner satten Farbgebung beinahe unnatürlich. Als hätte Mutter Natur zu viel türkisen Lidschatten aufgetragen. Und womöglich hat sie das auch. Um uns zu bezirzen und in ihren Bann zu ziehen. Gelungen ist es ihr allemal.
Eine schöne Überraschung
In der Zwischenzeit bin ich beim Einstieg in den Klettersteig angelangt. Die letzten Meter hier hoch waren steil und kräfteraubend. Umso mehr freue ich mich auf die Kletterpartie. Doch allzu weit komme ich erst gar nicht. „Komm schnell, du wirst Augen machen!“, höre ich die Rufe über mir. Sofort packt mich die Neugierde. Wie von der Tarantel gestochen klettere ich hinauf. Die Felsen gleiten durch meine Finger. Schließlich überwinde ich die letzte Felskante. Ein simples „Wow“ ist alles, was ich in diesem Augenblick hervorbringe. Unter mir zeigt sich eine große weiße Eisfläche von magischer Schönheit, von deren Vergänglichkeit das Plätschern des Schmelzwassers zeugt. Die atemberaubende Kulisse macht mich stumm. Vor Bewunderung und vor Demut. Und obwohl ich unzählige Fotos schieße, kann keines von ihnen das Gefühl wiedergeben, welches ich gerade empfinde.
Die Chemie stimmt
Ich lasse mich vom Stahlseil in Richtung Gipfel leiten. Doch der Moment unbeschreiblichen Glücks tritt früher ein als erwartet ein. Auf dem ausgesetzten Felsengrat, der rechts und links von mir in unsagbare Tiefe abschert. Ich bewege mich auf Messers Schneide zwischen Himmel und Abgrund. Trotzdem verspüre ich keine Angst. Konzentriert auf meine Bewegungen folge ich dem Stahlseil über die ausgesetzten Passagen hinweg. Der Respekt vor der Naturgewalt sitzt immer auf meinen Schultern. Die rauen Felsen geben mir ein Gefühl der Sicherheit. Wie eine liebevolle Umarmung. Ich spüre sogleich die Verbindung zum Berg. Als wären wir gute, alte Freunde, die sich ohne große Worte verstehen. Vertrautes Terrain, obwohl wir uns noch nie begegnet sind. Der Fels flüstert mir ins Ohr und verrät mir die nächsten Griffe und Tritte. Ich lausche seinen Anweisungen und überwinde mühelos den letzten Aufschwung.
Sterbende Schönheit
Als ich den Gipfel erreiche, muss ich mir zwischen den zahlreichen Wanderern ein Plätzchen suchen. Nicht ganz die Einsamkeit, die ich sonst so schätze. Anstatt dem Geschwätz der anderen zu lauschen, versuche ich die Atmosphäre hier oben zu genießen. Ich schiebe den Gedanken beiseite, dass dies der letzte Tag des Urlaubs ist und versuche stattdessen den Moment in seiner ganzen Besonderheit zu konservieren. Eigentlich stand diese Tour gar nicht auf meiner Liste. Aber es gibt nichts Schöneres, als Pläne umzuwerfen und sich spontan an einem Ort wie diesem wiederzufinden.
Die riesigen Felsplatten sehen aus wie ein modernes Kunstwerk. Ineinander verzahnt ergeben sie groteske Formen. An dem tollen Ausblick zu den umliegenden Eisriesen und besonders auf den Lüsener Ferner mit dem Lüsener Fernerkogel kann ich mich kaum sattsehen. Aber auch die vergletscherten Alpeiner Berge, die Kalkkögel, der Habicht, die Zugspitze und die Zillertaler Alpen machen Lust auf weitere Bergtouren in dieser herrlichen Umgebung.
In diesem Augenblick beschwert nichts meine Gedanken. Ich nehme ein Bad in der Euphorie des Aufstiegs. Meine innere Getriebenheit erscheint angesichts der mächtigen Berge vernachlässigbar. Hier oben auf dreitausend Metern Höhe ist alles ein bisschen anders. Die Luft ein wenig rauer, die Felsbrocken noch größer, die Grate ausgesetzter und der Schnee ein ganzjähriger Gast. Es ist eine besondere Atmosphäre, die süchtig macht. Doch zu dem lachenden gesellt sich auch ein weinendes Auge. Zusehends gehen die Gletscher zurück. Die Alpen verlieren ihr Gesicht. Dies führt einmal mehr vor Augen, dass wir im Kampf gegen die Klimaerhitzung keine Zeit mehr verlieren dürfen. Denn es wäre unsagbar schade, solche Ausblicke in Zukunft nicht mehr genießen zu können.
Fazit zur Tour: In vielen Wanderführern wird die Rinnenspitze als einfach zu erreichender Dreitausender beworben. Tatsächlich kann man diese Tour problemlos an einem Tag schaffen und dabei in die faszinierende Welt der hochalpinen Berge eintauchen. Landschaftlich schöpft diese Wanderung aus den Vollen und zeigt sich abwechslungsreich. Von grasigen Erhebungen über Blockwerk bis hin zu einem spannenden Klettersteig bleibt es bis zum Schluss vielseitig. Tolle Ausblicke auf den Rinnensee und den Lüsener Ferner sind die Kirsche auf der Sahnetorte. Die Ausgesetztheit des Gipfelgrates sollte dennoch nicht unterschätzt werden. Wenn du mit solchem Gelände nicht vertraut bist oder dich nicht sicher genug fühlst, ist ein Klettersteigset jedenfalls ratsam. Eine Einkehr in der sehr beliebten Franz-Senn-Hütte solltest du dir ebenfalls nicht entgehen lassen.