Es ist soweit. Wir haben die Salzburger Grenze passiert. Ich bin aufgeregt. Das Herz schlägt laut. Von Ihnen gegen den Brustkorb. Es will sich gar nicht beruhigen. Die Füße zappeln nervös. Mit Vollgas rasen die Endorphine durch die Blutbahn. Erinnerungen werden wach und wirbeln durch meinen Kopf. Die Gefühle fahren Achterbahn, während ich meine Nasenspitze neugierig gegen die Fensterscheibe drücke.
Berg | Großes Mandl 2818 Meter St. Jakob im Defereggental, Tirol |
Skitour | mittelschwere Skitour Dauer: 3 Stunden Länge: 7,6 Kilometer Aufstieg/Abstieg: 850 Höhenmeter Hangrichtung: SO, S, SW Höhenprofil & Karte |
Hütte | Alpengasthaus Obersee |
Anfahrt | Parkplatz beim Staller Sattel Zum Google Maps Routenplaner |
Inhaltsverzeichnis
Glückskind
Die Freude, wieder hier zu sein, ist grenzenlos. Es gibt Orte, die haben einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen. Osttirol ist so ein Fleckchen. Hier finde ich Ruhe und Gelassenheit. Genieße es, dass die Uhren langsamer ticken und der sanfte Tourismus eine Ursprünglichkeit erhalten hat, die selten anderswo zu finden ist. Nicht zu vergessen die gigantischen Berge, die wie Pilze aus dem Boden sprießen und deren Gipfel sich gegenseitig in ihrer Höhe und Erhabenheit zu überbieten scheinen. Man fühlt sich inmitten dieser friedvollen Natur geborgen und behütet, gleichzeitig aber auch frei und losgelöst. Wie Alice im Wunderland, die eine zauberhafte Welt voller Faszination betritt. Es ist eine ungezähmte Wildnis, die ihre Türen für mich öffnet.
Am Ende der Welt
Es ist Februar und mein erster Winter in Osttirol. Die Skier liegen am Rücksitz und warten auf ihren Auftritt. Unser Ziel ist das Defereggental im Nationalpark Hohe Tauern. Das Gebiet ist eine der am dünnsten besiedelten Regionen der österreichischen Alpen. Hier war ich bisher noch nie. Von unserer Unterkunft brauchen wir nicht lange bis zum Staller Sattel, einem Gebirgspass auf 2052 Metern Höhe. Von hier aus starten wir unsere heutige Tour auf das Große Mandl in der Rieserfernergruppe.
Als wir aus dem Auto steigen, ist es bitterkalt. Der Frost macht mir Beine. Bereits kurze Zeit später marschieren wir zügig über die nordwestlichen Sonnenhänge. Das Gelände besteht aus mehreren Steilstufen, welche sich immer wieder mit flacheren Stellen abwechseln. Wir sind umzingelt von steilen Felspyramiden und schroffen Graten, die ein Auge auf uns geworfen haben. Viele von ihnen knacken die Dreitausender-Marke. Während man zwischen diesen gigantischen Bergpersönlichkeiten seine Spur zieht, übt man sich in Bescheidenheit.
Stille Meister
Der Blick auf diese Urlandschaft aus Fels, Eis und Schnee reduziert das Denken auf eine Handvoll Gedankenströme. Auch heute erliege ich der Magie dieser Höhen, die jenseits des Erreichbaren scheinen. Man spürt, dass hier die Extreme regieren. Die unbändige Natur flößt mir Respekt ein und das ist auch gut so. Denn der Respekt bewahrt vor Selbstüberschätzung. Berge lehren Demut und geben trotzdem den Raum, über sich hinauszuwachsen. Dieses Gefühl, ein Ziel zu erreichen, das man sich womöglich nicht zugetraut hatte, ist unbeschreiblich erfüllend.
Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.
Johann Wolfgang von Goethe
Wir erreichen eine Verflachung auf rund 2400 Metern Höhe unweit des Kleinen Mandls. Der Wind bläst die gesamte Tour über mit voller Kraft. Nur an dieser Stelle ist es ein wenig windstiller. Die Kapuze meiner Daunenjacke habe ich mir über den Kopf gestülpt und sehe damit aus wie ein rotes Michelin-Männchen. Mit zittrigen Fingern fische ich meinen Müsliriegel aus dem Rucksack. Während ich ihn esse, nehme ich mir Zeit, die überwältigende Aussicht zu genießen. Als hätten diese Berge nur auf uns gewartet. Diese Höhen, diese Pracht, diese Kraft und dieser Anmut. Die Umgebung hat von unten schon sehr eindrucksvoll ausgesehen, aber der Blick von hier oben – lässt mich nach Worten ringen. Ich verstumme vor Ehrfurcht. Doch noch sind wir nicht am Ziel. Ein Stückchen Wegstrecke liegt noch vor mir.
Die Kämpferin
Von unserem Rastplatz führt die Spur über einen Steilhang in Richtung Nordwest. Während die meisten Tourengeher zur Jägerscharte abbiegen, um das Almerhorn in Angriff zu nehmen, queren wir hinüber zum Großen Mandl. Als ich meinen Blick über den Schlusshang schweifen lasse, kommen mir erste Zweifel. „Mal sehen, ob ich hier mit Skiern hochkomme“, scherze ich mit argwöhnischem Unterton. Doch voreilig möchte ich die Flinte nicht ins Korn werfen.
Eines ist gewiss: Ohne Spitzkehren geht jetzt nichts mehr. Obwohl die Kehren immer enger werden, versuche ich, nicht den Mut zu verlieren. Kämpfe mich noch einige Schleifen nach oben. In der steilen Nordostflanke wird das Eis immer dünner. Zwischen Ausrutschen und Halt liegen nur mehr wenige Zentimeter. Eine echte Gratwanderung. Ich spüre, wie das Unbehagen langsam in mir hochkriecht. Es lässt sich partout nicht abschütteln. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Schließlich kommt der Punkt, an dem ich mich geschlagen geben muss. Ich richte ein Skidepot ein und bestreite die letzten Meter auf allen Vieren.
Mit ganzer Kraft ramme ich die Spitzen meiner Skischuhe in den Schnee, um mir einen sicheren Stand zu schaffen. Tunlichst vermeide ich den Blick nach unten. Da ich ein wenig Höhenangst habe, würde mir das nur zusätzlichen Stress bereiten. Ich gebe mir größte Mühe, mich nur auf meine Schritte zu konzentrieren. Ans Aufgeben will ich gar nicht erst denken. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, es bis ganz nach oben zu schaffen und nichts darf mich jetzt noch davon abhalten. Der Fokus ist gänzlich auf mein Ziel gerichtet. Unbeirrt stapfe ich durch die Schneemassen, welche mir bis zum Knie reichen. Schnaufend, stöhnend und nassgeschwitzt erreiche ich letztlich den Gipfel.
Ein Stück vom Himmel
Ich fühle mich, als hätte ich soeben den Mount Everest bestiegen. Zwischen Freudentaumel und fieberhafter Aufregung gehe ich auf das Steinmännchen zu. Der Gipfel gehört in diesem Augenblick nur uns allein. Die Spitzen von Hinterbergkofel, Innerrodelgungge, Hochgall, Ohrenspitze und Deferegger Pfannhorn sind mit einer dicken Schneeschicht überzogen. Nach und nach rücken immer mehr Berge in mein Blickfeld. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen. Man fühlt sich vollkommen. Zwischen Stolz, Freiheit und Erleichterung pendelnd. Ich tauche in dieses Gefühlsbad ein. Verspüre eine tiefe Dankbarkeit, die meine Seele streichelt. Mir wird bewusst, wie sehr ich soeben über meinen Schatten gesprungen bin. Der steile Schlusshang hat mich zwar Überwindung gekostet, doch umso süßer schmeckt nun der Gipfelsieg.
Ich setze mich auf einen Felsen. Meine Zehenspitzen baumeln über dem gähnenden Abgrund. Ein schmaler und scharfer Felsgrat markiert die Grenze dessen, was dem Menschen zugänglich ist. Die unnahbare, bizarre Schneide lässt sich nur aus der Ferne betrachten. Mit klopfendem Herzen blicke ich in die Tiefe und vergesse für wenige Augenblicke alles um mich herum. Die von Schnee überdeckte Felslandschaft wirkt surreal. Die Zivilisation scheint unendlich weit weg und der Himmel zum Greifen nahe.
Glaube versetzt Berge
Nach einer Weile heißt es Abschied nehmen. Wir beginnen mit dem Abstieg. Am Skidepot angekommen, bereite ich alles für die Abfahrt vor. Jeder Handgriff sitzt, doch meine Gedanken kreisen. Obwohl ich grundsätzlich eine gute Skifahrerin bin, verlässt mich im Gelände ab und zu das Selbstvertrauen. Unsicherheit im Kopf überträgt sich allerdings auf die Skier – ein Teufelskreis. „Augen zu und durch“ war früher mein Motto. Mittlerweile gelingt es mir besser, den Kopf auszuschalten und die Kontrolle zu behalten.
Trotzdem spüre ich die Nervosität aufkeimen, als meine Skier Fahrt aufnehmen. Wir entscheiden uns, entlang des Aufstiegsweges abzufahren. Eine weitere Möglichkeit ergibt sich über die steilen Südhänge und die ehemalige Piste zum Obersee, wo das Alpengasthaus Obersee zur Einkehr lockt.
Die Hänge sind bereit, unbewachsen und mäßig steil. Schon nach den ersten Schwüngen fühle ich mich wie ein Fisch im Wasser – damit habe ich nicht gerechnet! Der Schnee ist hart und festgefroren. Fast wie auf einer Piste. Es gelingt mir, die Skier einfach laufen zu lassen. Die Knie schwingen, Waden und Füße belasten in der richtigen Dosierung. Ich genieße das gute Gefühl. Zweifel und Sorgen sind wie weggeblasen. Meine beiden Bretter tanzen nach meiner Pfeife. Von neuer Selbstsicherheit beflügelt, traue mich sogar, das Tempo zu beschleunigen. Der Wind steift meine Wangen. Die Kanten fressen sich in den windgepressten Schnee. Das Glück übermann mich. Freudestrahlend ziehe ich meine Schwünge den Hang hinab. Ohne zu wissen, dass sich der Knoten in meinem Kopf für immer gelöst hat.
Fazit zur Tour: Während meiner Suche nach einem hochgelegenen und damit relativ schneesicheren Gebiet in Osttirol stieß ich auf den Staller Sattel. An der Passstraße starten unzählige Skitouren, so auch jene auf das Große Mandl. Da der Ausgangspunkt schon ziemlich hoch ist, ist diese Skitour auch für weniger ausdauernde Tourengeher gut machbar. Das Gelände ist dennoch alpin und setzt eine entsprechende Erfahrung voraus. Vor allem der letzte Hang hinauf zum Gipfel des Großen Mandls ist sehr steil und darf nur bei sicheren Verhältnissen begangen werden. Wer es mit Skiern nicht bis nach oben schafft, richtet ein Skidepot ein. Bei hartem Schnee sind aufgrund der Abrutschgefahr Steigeisen empfehlenswert. Ich hatte den Eindruck, dass viele Tourengeher in Richtung Jägerscharte abgebogen sind. Umso ruhiger war es am Großen Mandl, von dem man wahrlich eine bombastische Aussicht genießt.