Immer wieder breche ich durch die dünne Eisschicht. Sobald die Last der Skier zu hoch ist, gibt die Eiskruste nach und die Felle treffen auf den weichen Schnee darunter. Klassischer Bruchharsch. Erzfeind jedes Wintersportlers und kräfteraubendste Unterlage für einen Aufstieg. „Es ist zum Haareausraufen“, stöhne ich. „Ich rutsche ständig nur weg“, rufe ich verzweifelt. In letzter Konsequenz legen wir eine neue Spur an. Dadurch klappt das Gehen zwar deutlich besser, von Genuss kann dennoch keine Rede sein. Trotz aller Widrigkeiten behalte ich das Ziel im Auge. Immer mehr Ausschnitte der hoch aufragenden Bergszenerie kommen zum Vorschein. Mit jeder Skilänge fügt sich ein weiteres Puzzleteil ein, bis sich ein eindrucksvolles Gesamtbild ergibt. Das Herz schlägt schneller. Die Augen leuchten. „Nur mehr wenige Meter“, treibe ich meine müden Beine an. „Hoffentlich lohnt sich das alles“, denke ich mir und überwinde die letzte Steilstufe.
Berg | Karkogel (auch: Karlkopf) 2087 Meter Hüttschlag, Salzburg |
Skitour | schwere Skitour Dauer: 4 Stunden Länge: 13,4 Kilometer Aufstieg/Abstieg: 1050 Höhenmeter Hangrichtung: N, NO Höhenprofil & Karte |
Anfahrt | Parkplatz Aschaustüberl Zum Google Maps Routenplaner |
Inhaltsverzeichnis
Tag 365
Im vergangenen Jahr bin ich meine erste Silvester-Skitour gegangen und habe mir fest vorgenommen, diese Tradition fortzusetzen. Die Skitour auf den Penkkopf war damals eine Paradetour mit himmelweichem Pulver und strahlendem Sonnenschein. Auch am heutigen Silvestertag ist ideales Wetter angesagt. Doch was den Schnee betrifft, müsste man ein ernstes Wort mit Frau Holle sprechen. Schon seit Tagen herrschen viel zu warme Temperaturen, die vielerorts den Schnee zum Schmelzen gebracht haben.
Die Wahl fällt deshalb auf eine nordseitige Tour in der Hoffnung, dass in den schattigen Hängen noch etwas weißes Gold konserviert wurde. Es ist früh am Morgen in Hüttschlag und klirrend kalt. Die Wolken schieben sich wie ein Schutzwall vor die Sonne. Eilig zwänge ich meine Füße in die engen Tourenschuhe. Das laute Piepsen des LVS-Geräts durchdringt die Stille. Der LVS-Checkpoint gibt grünes Licht. Die Skier auf meinen Schultern und die Stöcke in der anderen Hand marschiere ich zum Ausgangspunkt.
Vitamin Berg
Wir ziehen unsere Spur den Wald hinauf. Der Schnee ist überraschend griffig. Das Gelände kontinuierlich steil, sodass ich in einen angenehmen Gehfluss finde. Niemand sonst ist außer uns unterwegs. Was für eine angenehme Ruhe. Ein Luxus, seitdem Tourengehen so beliebt geworden ist. Diesmal werde ich nicht von einer Woge des Menschenstroms erfasst, sondern höre nur auf mich und meine Bedürfnisse. Die einzige Intuition ist der eigene freie Wille. Anstatt mich von dem schnelleren Tempo anderer unter Druck gesetzt zu fühlen, konzentriere ich mich voll und ganz auf meinen Rhythmus.
Je einsamer der Weg, desto stärker spüre ich, wie sich der Körper entkrampft und der Geist von sämtlichem Ballast befreit ist. Ich habe Gelegenheit, meine Gedankenstränge zu ordnen. Das Naturerlebnis ist so noch viel intensiver spürbar. Die Gerüche, die Geräusche, die klare Luft und die Aussicht auf die Berge – alles zusammen berührt mich tief und ich sauge die Eindrücke gierig auf. Wo sonst der Kopf rattert, herrscht zweitweise gähnende Leere. Es ist ein Kommen und Gehen von Eindrücken, Gedanken und Emotionen.
In diesem Gemütszustand geht es eine ganze Weile den Berg hinauf. Viel wird nicht gesprochen, dafür umso mehr genossen. Schließlich erreichen wir das Almgelände der Hirschgrubenalm und gehen links an der Jagdhütte vorbei. Nach einem kurzen Stück auf dem Wanderweg zur Aschlreitalm verlassen wir diesen wieder und folgen den Spuren nach rechts in den steilen Wald hinein.
Fleckerlteppich
Wald, Wald und noch mehr Wald. Dafür wird der Schnee immer weniger. Beim Anblick der braunen Grasbüschel zerplatzen die Pulverträume wie Seifenblasen. Statt fluffigem Neuschnee schiebe ich meine Skier über Wurzelgeflecht und eine mit Nadeln übersäte, harte Altschneedecke. Auf den letzten Schneeresten bahne ich mir meinen Weg den abschüssigen Forst hinauf. Der Unmut steht mir ins Gesicht geschrieben. „Mühsam nährt sich das Eichhörnchen“, murre ich und kann mir ein aufmüpfiges Schnaufen nicht verkneifen. Vorsichtig navigiere ich meine Skier entlang des schmalen Schneestreifens und gebe Acht, dass ich nicht von der Spur abkomme. Endlich! Der Baumbestand wird schütterer. Wir erreichen die Waldgrenze und betreten das weitläufige Kar.
Was auf den ersten Blick wie ein Wintermärchen aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Bruchharsch. Die scheinbar weiche Schneedecke ist durch die schattige Lage in eine Kältestarre verfallen. Eine dünne Eisschicht überzieht wie eine Tortenglasur den gesamten Hang. Doch der Aufstieg ist kein süßer Genuss, sondern hat einen bitteren Beigeschmack. Die Oberfläche ist zerbrechlich wie Glas und zerberstet bei jedem Schritt in hunderte kleine Eisplatten. Die Skier rutschen mir unter den Füßen weg. „So ein Mist“, fluche ich. Egal, wie ich mein Gewicht verlagere – der Boden bietet kaum Halt. Die alte Spur ist einfach zu vereist. Deshalb ziehen wir eine neue den Bergrücken hoch, was die Haftung der Felle deutlich verbessert. Immerhin entschädigt die Aussicht für die Mühsal. Die weißen Riesen und schroffen Gipfel lenken meine Aufmerksamkeit auf sich und heben meine Stimmung. Kurz vor dem Gipfel machen wir einen Fotostopp in der Sonne, bevor wir den letzten Anstieg in Angriff nehmen.
Wie ein Magnet
Oben angekommen sind all die Mühen vergessen. Wie erwartet sind wir ganz alleine und auch hinter uns steigt niemand mehr hoch. Das Gute am viel zu warmen Wetter ist, dass wir ausnahmsweise keine Eile am Gipfel haben und jeden Sonnenstrahl genießen. Es erscheint surreal, dass heute schon der letzte Tag des Jahres ist. Alle möglichen Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich werde tatsächlich ein wenig sentimental. Es drückt mir die Tränen in die Augen, doch ich halte sie vehement zurück. Die schönsten Momenten des Jahres laufen wie ein Film vor meinen Augen ab. Wünsche, Sorgen, Erfolge, Gesagtes, Erlebtes und Gefühltes entladen sich in einem emotionalen Feuerwerk.
Zahllose Bergtouren, meine erste Hochtour, die erste Flugreise seit Beginn der Pandemie, unzählige besuchte Ausflugsziele, Zeit mit Familie und Freunden, ein neuer Job. Trotz des Coronavirus, das uns immer noch in Atem hält, kann ich mich glücklich schätzen. Zur Krönung stehe ich hier auf diesem einsamen Gipfel, umringt von endlosen Gebirgsketten.
Der blaue Himmel setzt die verschneiten Spitzen majestätisch in Szene. Gewaltige und unverwüstliche Steilhänge präsentieren sich hell leuchtend in ihrer ganzen Pracht. Eine steingewordene Ewigkeit zwischen Himmel und Erde. Je mehr Berge ich besteige, desto gieriger werde ich nach Neuen. Als ich am Karkogel stehe, frage ich mich, wie die Aussicht von den Gipfeln in der Ferne wohl sein mag. Die Sehnsucht nach neuen Erfahrungen reißt einfach nicht ab, sondern treibt mich von einem Berg auf den nächsten. Immer und immer wieder möchte ich in diesem Gefühlsrausch baden. Lechze nach der Freiheit, der Unbekümmertheit, der Demut, dem Gefühl, zu seinen Wurzeln zu finden. Ich mag die Berge, aber vor allem auch wer ich selbst dort oben bin.
Die endlosen Gebirgszüge sind für mich eine Spielwiese, die mir unendliche Möglichkeiten bietet, mich auszutoben. Die Wildheit und Losgelöstheit der Berge erzeugt eine mystische Anziehung, während die Vorstellung davon, was es an Verborgenem und Geheimnisvollem noch zu entdecken gibt, mich fortwährend anspornt.
Ich sehe hinüber zu Draugstein, Faulkogel, Kreuzeck, Klingspitze, Gamskarkogel und Frauenkogel. Gedankensplitter vergangener Touren tauchen in meiner Erinnerung auf. In Richtung Osten und Süden werden die Bergflanken steiler und ihr weißer Wintermantel dicker. Nur an wenigen Stellen blitzen Felsen hervor. Weißeck, Nebelkareck, Schöderhorn, Großer Hafner, Mandlkogel, Plattenkogel und der imposante Keeskogel liegen leider noch außerhalb meiner Reichweite. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht sogar schon im neuen Jahr?
Im Schleier der Angst
Es fällt mir schwer, mich von diesem Platz loszureißen, aber die Zeit drängt und wir müssen endlich abfahren. Mir schwant bereits Böses, als ich in die Bindung einraste. Mein Bauchgefühl sagt nichts Gutes und ich befürchte, dass es Recht behalten wird. Für die Abfahrt vom Karkogel gibt es grundsätzlich mehrere Möglichkeiten.
Entweder man fährt über die Aufstiegsroute ab oder über eine Mulde sowie einen Steilhang, der nordwärts zur Hirschgrubenalmhütte führt. Voraussetzung ist, dass die Bedingungen sicher und die Schneedecke stabil ist. Oberhalb der Hütte musst du jedenfalls scharf nach rechts abbiegen, um zur Aufstiegsspur zu gelangen und nicht über den Forstweg in Richtung Norden in die Wildschutzzone einzufahren.
Schon im oberen Bereich des Hanges wird die Abfahrt zur Schinderei. Wegen des Bruchharsches stürze ich mehrmals, da die Skier immer wieder unkontrolliert einbrechen. Manche Kurven klappen ganz gut, in anderen wiederum verliere ich die Kontrolle über meine beiden Bretter. Obwohl ich erst kürzlich ein Skitechnik-Training absolviert habe, schaffe ich es nicht, in den Kurven den richtigen Druck auf die Skier auszuüben und den Kurvenwechsel mit schwungvollen Hoch- und Tiefbewegungen zu steuern. Als wir die Rinne erreichen, bin ich ziemlich durchgeschwitzt und frustriert, weil ich es nicht besser hinbekomme.
Um eine Erfahrung reicher
Ich kämpfe mich noch einige Zeit durch den Schlamassel, bis sich plötzlich alles in mir gegen eine Weiterfahrt sträubt. Mir bleibt schließlich nichts anderes übrig, als die Skier zu schultern und im hüfttiefen Schnee hinabzusteigen. Als ich die Hütte endlich erreiche, stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Mein Puls rast, mein Herz pocht und meine Nerven liegen mehr als blank. „So schwierig hab ich mir die Bedingungen nicht vorgestellt“, gestehe ich mir ein. Zugegeben, ich bin nicht die beste Skifahrerin im Gelände, aber so ein Malheur ist mir schon lange nicht mehr passiert. „Im nächsten Jahr wird’s bestimmt besser“, scherze ich schon wieder und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Die Weiterfahrt ist zwar auch nicht wirklich ein Skivergnügen, aber immerhin kommen wir ohne weitere Komplikationen zum Parkplatz zurück. „Das Raclette habe ich mir jetzt aber redlich verdient“, stelle ich fest. Auch wenn die Abfahrt nicht so war, wie ich es mir gewünscht hätte, bin ich dennoch glücklich, dass es mit der Skitour an Silvester trotz Schneemangel geklappt hat. Es gibt eben auch Tage, an denen lernt man für die Zukunft. Morgen ist das Jahr vorüber. Ich blicke voll Neugierde auf das, was kommen wird. Im Wissen, dass 2022 wieder neue Gipfel nach mir rufen und ich ihrer Einladung Folge leisten werde.
Fazit zur Tour: Der Karkogel zählt sicherlich zu den weniger populären Skitourenzielen und ist perfekt für all jene, die sich nach Ruhe und Abgeschiedenheit sehnen. Die Abfahrt erfordert jedoch eine vorsichtige Routenwahl und gutes skifahrerisches Können, vor allem über die Rinne (35 bis 40 Grad Hangneigung) sowie die engen und steilen Waldpassagen! Zugegeben habe auch ich die Schwierigkeit bei der Abfahrt ein wenig unterschätzt. Der schönste Teil der Tour beginnt ab der Baumgrenze, wenn man die freien Hänge erreicht und die uneingeschränkte Sicht auf die umliegenden Berge genießen kann. Grundsätzlich führt der Großteil der Skitour aber durch den dichten Wald. Ich empfand besonders die gleichmäßige Steigung beim Aufstieg als sehr angenehm. Der Ausblick vom Gipfel ist wirklich sagenhaft, vor allem, wenn man ihn ganz für sich alleine hat.