Der Gletscher zieht tiefe Furchen in die gefrorene Oberfläche, als hätte der Winter seine Spuren für immer hinterlassen. Dort, wo er sich über den rauen Fels schiebt, öffnen sich gewaltige Spalten und der Stein bricht das Eis, als wäre eine unsichtbare Kraft am Werk. Das blanke türkisblaue Eis hebt sich markant von den sanften Schneeflächen ab, die sich um die scharfen Grate schmiegen. Gletscher haben etwas Magisches, Ehrfurchtgebietendes – unnahbar, gefährlich und doch voller Anziehungskraft, als kämen sie aus einer anderen Welt.
Vor mir erhebt sich ein mächtiger Felsgrat und während ich auf einem der riesigen Gesteinsbrocken sitze, fühlt sich das Leben plötzlich leichter an. Hier, inmitten der zerklüfteten Felsen und der hochalpinen Berghänge, scheint alles auf das Wesentliche reduziert zu sein. Pure Naturgewalt, rein und unberührt. Die Antworten auf all die großen Fragen des Lebens scheinen greifbar, sie liegen scheinbar direkt zu meinen Füßen. In dieser Einsamkeit scheint die Natur einem die Augen zu öffnen, sodass alles Wesentliche plötzlich klar und deutlich wird – als hätte sich ein Schleier gelüftet.
Berg | Schönbichler Horn 3134 Meter Dornauberg-Ginzling, Tirol |
Wandern | Schwierigkeit: alpine Route mit leichten Kletterstellen Dauer: 8 bis 9 Stunden Länge: 19 Kilometer Aufstieg/Abstieg: 1350 Höhenmeter Höhenprofil & Karte |
Hütte | Furtschaglhaus |
Anfahrt | Gebührenpflichtiger Parkplatz „Zamsgatterl“ beim Schlegeis-Stausee Zum Google Maps Routenplaner Informationen zur Mautstraße |
Inhaltsverzeichnis
Schwer wie Blei
Unbeeindruckt von den mächtigen, vergletscherten Gipfeln, die sich über ihm erheben, schlummert der Schlegeis-Stausee in seiner stillen Pracht. Seine tieftürkise Farbe ist so surreal, dass sie mich fast sprachlos macht – als würde er still und selbstbewusst zeigen, dass er mit den eindrucksvollen Gipfeln spielend mithalten kann. Umgeben von dieser gigantischen Bergkulisse erscheint er wie eine farbenfrohe Oase, die so perfekt und unwirklich ist, dass mein Herz vor Staunen kurz stillsteht.
Ich habe jedenfalls ausreichend Zeit, um dieses faszinierende Farbenspiel zu bewundern, denn der Weg führt mich 5,5 Kilometer vom Parkplatz „Zamsgatterl“ entlang des westlichen Seeufers. Die Strecke ist fast eben, sodass man sie auch problemlos mit dem Rad zurücklegen könnte und sich dabei insgesamt fast eine Stunde Gehzeit bei Auf- und Abstieg ersparen würde. Da ich jedoch kein Fahrrad dabei habe, genieße ich im Schritttempo die herrliche Aussicht.

Am südlichen Ende angekommen, wechsle ich auf die andere Seite des Talgrunds. Schließlich erreiche ich einen gelben Wegweiser. Mir wird bewusst, dass ich bisher kaum Höhenmeter geschafft habe. Doch das ändert sich schlagartig, als ich den steilen Grashang in unzähligen Kehren hinaufsteige. Der Schweiß läuft mir von der Stirn und der Rucksack hängt schwer wie Blei an meinen Schultern – so, als ob er mit jedem Schritt tiefer in meinen Rücken drückt. Es fühlt sich an, als würde er mich hinunterziehen, während meine Beine mich mühsam Schritt für Schritt den steilen Pfad hinauftragen.


Fremde Gesichter
Auf etwa 2.200 Metern führt der Weg an einem tosenden Wasserfall vorbei, während er sich in engen Kurven zum Furtschaglhaus hinaufschlängelt. Als ich endlich ankomme, kann ich kaum beschreiben, wie erleichtert ich bin, den schweren Rucksack abwerfen zu können. Es ist, als würde eine Last von meinen Schultern fallen und ich freue mich einfach nur, mein Zimmer zu beziehen.
Im Speiseraum hört man fast überall die gleiche Frage: „Und wo gehst du morgen hinauf?“ Die Antworten sind meist die gleichen: das Schönbichler Horn, der Große Möseler oder vielleicht die Berliner Hütte. Diese Gespräche gehören einfach dazu – man tauscht sich aus, erzählt mit großer Vorfreude von sich und den eigenen Plänen und Zielen. Eine Nacht auf der Hütte bedeutet aber auch, die gewohnten Annehmlichkeiten hinter sich zu lassen. Da sind die schnarchenden Zimmergenossen, der enge Schlafsack, die knarrenden Böden, die einen aus dem Schlaf reißen, wenn wieder jemand leise zur Toilette schleicht. Wenn man Glück hat, bekommt man ein paar Stunden Schlaf, bevor der Tag mit einem einfachen Frühstück beginnt. Kein Luxus, keine frische Kleidung und Zähneputzen wird zu einer gemeinsamen Erfahrung mit Fremden – das gehört hier einfach dazu. Doch so herausfordernd das alles sein mag, empfinde ich dieses minimalistische Dasein als unglaublich erdend und befreiend – vor allem ohne Handyempfang.




Eine Passion, die eint.
Und dennoch,… es sind die besonderen Momente, die alles wettmachen. Neue Gesichter, unerwartete Begegnungen, Gespräche, die sich um die gleiche Leidenschaft drehen – den Berg. Hier oben kommen Menschen verschiedensten Alters, aus unterschiedlichen Ländern und mit ihren ganz eigenen Geschichten zusammen. Und doch vereint uns alle etwas: die tiefe Liebe zur Natur und zum Bergsport.
Gemeinsam stillen wir unsere hungrigen Mägen, stoßen ein letztes Mal mit unseren Gläsern an. Es ist ein Gefühl der Gemeinschaft, das man sonst selten erlebt. Punkt 22 Uhr gehen die Lichter aus – Hüttenruhe. Die Stille kehrt ein, nur das gelegentliche Knarzen des Holzes begleitet die Nacht. Ich blicke gespannt zur Decke, meine Gedanken sind bereits beim morgigen Gipfeltag. Die Vorfreude kribbelt in mir und ich kann es kaum erwarten, die nächste Etappe dieses Abenteuers zu bestreiten.
In meiner Gedankenwelt
Gleich hinter der Hütte führt der Weg nach links und in moderater Steigung den Hang hinauf. Die Hütte rückt zusehends in weitere Ferne, dafür habe stets den Großen Möseler mit seinem beeindruckenden Gletscher im Blick. Ich wandere über einen schön angelegten Wanderweg durch malerische, felsdurchsetzte Bergwiesen. So früh am Morgen durchbricht nur das sanfte Rauschen des Baches die Stille. Die Luft ist klar und kühl, jeder Atemzug füllt meine Lungen mit einer angenehmen Frische. Das Gewicht des Alltags fällt von mir ab, ersetzt durch die Ruhe und den gleichmäßigen Rhythmus meiner Bewegungen. Ich habe keinen Grund zur Eile und kann mir daher die Zeit nehmen, alle Eindrücke bewusst wahrzunehmen.
Ich beginne über das Hier und Jetzt nachzudenken. Bergsteigen hat für mich immer etwas Meditatives. Als ich den Pfad zum Gipfel hinaufsteige, spüre ich dieses leise Kribbeln in meinem Bauch – nicht die Angst, sondern diese Mischung aus Anspannung und Vorfreude. Ich denke daran, wie oft ich mir solche Herausforderungen schon gestellt habe, und doch fühlt es sich jedes Mal neu an. Warum mache ich das immer wieder? Vielleicht, weil ich es brauche, diesen Moment, in dem ich über mich selbst hinauswachse.



Durch raues Terrain
Inzwischen habe ich das felsige Gelände erreicht und tauche in eine faszinierende, beinahe unwirkliche Hochgebirgslandschaft ein. Der Weg wird zunehmend rauer, die Vegetation verschwindet und um mich herum breitet sich eine karge, stille Welt aus, die Ehrfurcht weckt und mich gleichzeitig in ihren Bann zieht. Die Steinmännchen, die den Pfad säumen, wirken wie stumme Wächter, die mich durch diese ungezähmte Landschaft geleiten. Schritt für Schritt windet sich der Weg in engen Serpentinen über blanke Felsplatten und loses Geröll, immer weiter hinauf, während der Berg sich majestätisch vor mir aufbaut.
Auf etwa 2.800 Metern öffnet sich der Blick auf den nächsten Abschnitt: ein breiter und flacher Verbindungsgrat, der sich scheinbar endlos nach oben zieht, direkt auf den markanten Gipfel des Schönbichler Horns zu. Der Wind pfeift mir um die Ohren, kühl und unbändig, während sich die Wolkendecke zunehmend verdichtet, obwohl eigentlich ein klarer, sonniger Tag vorhergesagt war. Ein leichtes Gefühl der Ernüchterung steigt in mir auf, da ich mir eine bessere Aussicht erhofft hatte. Doch der Frust verfliegt schnell und wird von neuer Entschlossenheit abgelöst, weiterzugehen. Hier oben, inmitten dieser wilden, ungezähmten Natur, spielt das Wetter eine große Rolle bei der Planung. Doch selbst der beste Wetterbericht kann nicht immer vorhersagen, wie schnell sich alles ändern kann. „Gut, dass ich vorbereitet bin“, denke ich, als ich mir die Daunenjacke überstreife, während der Wind plötzlich auffrischt.





Unterhalb der Schönbichler Scharte erblicke ich endlich das Drahtseil, das sich steil den schmalen Bergpfad hinaufzieht. Ein vertrautes Kribbeln durchzieht mich – diese Kletterpassagen liebe ich besonders. Kaum habe ich das kalte, raue Stahlseil in der Hand, spüre ich eine unmittelbare Verbindung zum Felsen. Jeder Griff vermittelt mir Sicherheit, als würde der Berg selbst mir Halt geben. Schritt für Schritt ziehe ich mich daran empor, die schroffen Felswände dicht neben mir. Meine Finger ertasten die kalte, raue Oberfläche des Felsens. Mit wachem Blick suche ich mir meinen Weg über die mächtigen Felsbrocken, die sich chaotisch übereinander türmen. Was auf den ersten Blick wie ein zufälliges Trümmerfeld wirkt, offenbart bei genauerem Hinsehen eine eigene Ordnung. Es scheint, als hätte jeder Stein genau den Platz gefunden, an dem er hingehört.
Die wilden Kräfte der Natur sind hier direkt unter meinen Händen spürbar. Mit jedem Zug fühle ich mich intensiver mit dem Berg verbunden, als ob die Felsflanken und das Drahtseil ein stilles Versprechen von Stärke und Schutz geben. Schließlich erreiche ich den Südgrat und die Anstrengung vermischt sich mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit, das sich wie eine warme Welle in mir ausbreitet. Plötzlich öffnet sich der Blick und die Weite des Himmels breitet sich vor mir aus – mein Herz schlägt schneller, nicht nur wegen des Aufstiegs, sondern weil das Ziel nun so nah ist.


Immer wieder aufs Neue
Nur noch ein kurzer Weg über die massiven Felsblöcke trennt mich nun vom Gipfel. Ich biege an der Schönbichler Scharte scharf links ab und steige entschlossen die letzten Meter durch Blockwerk zum Gipfel empor. Jeder Schritt fordert mich heraus, doch das Ziel ist zum Greifen nah. Schließlich stehe ich am Gipfelkreuz, die Welt weit unter mir, und alle Anstrengungen fallen ab. Während des Aufstiegs frage ich mich oft: Warum tue ich das? Warum quäle ich mich stundenlang hinauf, mit brennenden Muskeln und keuchendem Atem? Doch die Antwort kommt fast automatisch – es ist nicht nur der Gipfel, es ist der Weg dorthin. Es ist dieses Gefühl, die eigenen Grenzen auszuloten und zu erkennen, dass sie oft bloß Illusionen sind.
Hier oben, inmitten der wilden Berglandschaft, bestehen keine Zweifel. Keine Fragen. Nur die reine Freude und Dankbarkeit, dass ich mich immer wieder auf solche Abenteuer einlasse. Ich denke daran, wie viele Möglichkeiten das Leben bietet, wenn man sich ihnen nur öffnet. Für mich ist es das, was mich lebendig hält – mich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen. Jetzt, wo ich den Gipfel erreicht habe, spüre ich es erneut: Es ist nicht das „Ich habe es geschafft“, sondern das „Ich habe es gewagt.“ Dieser Moment, dieser Mut macht mich stärker – in den Bergen und tief in mir.



Während ich am Gipfel stehe, breitet sich zudem eine tiefe Ruhe in mir aus. Der kühle Wind streicht sanft über mein Gesicht, erfrischend und belebend, während mein Blick über die schneebedeckten Gipfel und Gletscher gleitet. Der mächtige Große Möseler erhebt sich imposant in den Himmel, der Hochfeiler thront herrschaftlich über der Landschaft und in der Ferne strahlt der Hohe Weißzint in unberührter Pracht. Die Gipfel der Furtschaglspitze, des Turnerkamps und der Berliner Spitze fügen sich in diese gewaltige Bergkulisse ein. In der Ferne funkeln die Gletscher des Waxeggkees, Hornkees und Furtschaglkees im Sonnenlicht. Ihre strahlend weißen Schneeflächen wirken fast surreal, wie ein Meisterwerk der Natur.


Hoch oben, fernab der Welt
Die Zeit scheint stillzustehen. Hier oben gibt es keine Eile, keinen Druck, nur die Stille der Berge und das Gefühl, mit der Natur eins zu sein. Ich setze mich auf einen Stein und lasse die Augen über die Weite schweifen. In diesem Moment wird mir klar, dass es nicht nur um den Gipfel ging, sondern um das, was ich dabei in mir entdeckt habe: eine Stärke, die ich manchmal im Alltag vergesse. Hier oben, fernab von allem, spüre ich mich selbst auf eine Weise, die im hektischen Treiben des Alltags oft verloren geht.
Es gibt nichts weiter zu tun, außer diesen Moment zu genießen, ihn aufzusaugen. Plötzlich reißt die Wolkendecke auf und die Sonne strahlt warm auf mein Gesicht. Ein Gefühl tiefer Freude durchströmt mich, als der Himmel in einem strahlenden Blau leuchtet – fast zu schön, um wahr zu sein. Ich weiß, dass ich bald absteigen muss, zurück zur Hütte und ins Tal, zurück in die Welt da unten. Aber das Gefühl, das ich hier oben gefunden habe, trage ich mit mir. Es wird mich begleiten – nicht nur auf den nächsten Gipfel, sondern auch in den Momenten, in denen ich daran erinnert werden muss, was ich alles schaffen kann.





Fazit zur Tour: Die Besteigung des Schönbichler Horns ist ein großartiges, aber anspruchsvolles Abenteuer, das man nicht unterschätzen sollte. Eine Übernachtung im Furtschaglhaus ist ratsam, um den Aufstieg am nächsten Morgen ausgeruht anzugehen. Da ich eine lange Heimfahrt von über drei Stunden hatte, habe ich sogar zwei Nächte auf der Hütte verbracht, um die Tour entspannt genießen zu können. Für den Aufstieg sind eine solide Bergausrüstung, viel Ausdauer, Trittsicherheit sowie Schwindelfreiheit unerlässlich. Das Schönbichler Horn liegt direkt am Berliner Höhenweg und wird häufig bei der Etappe zwischen dem Furtschaglhaus und der Berliner Hütte bestiegen. Daher ist der Gipfel meist stark frequentiert. Ich hatte jedoch das Glück, später am Tag oben zu sein, sodass ich den Gipfel fast für mich allein genießen konnte und nur wenigen Wanderern begegnet bin.

Beim Abstieg genieße ich noch einmal den grandiosen Blick auf das Panorama rund um den Schlegeis-Stausee, als sich die erhabene Bergwelt ein letztes Mal vor mir ausbreitet.
Der Abstieg folgt in der Regel der Aufstiegsroute, es gibt jedoch die Möglichkeit, das Schönbichler Horn zu überschreiten. Diese Variante führt von der Schönbichler Scharte weiter nach Osten auf dem Berliner Höhenweg. Der vielbegangene Weg ist hier etwas anspruchsvoller, aber mit Drahtseilen gut gesichert und verläuft entlang des zerklüfteten Waxeggkees hinunter ins Garberkar, in dem oft Schnee liegt. Anschließend schwenkt die Abstiegsrichtung nach Norden, wobei sich der Weg auf einem Moränenrücken teilt. Nach Osten geht es in Richtung der Berliner Hütte, geradewegs nach Norden hingegen zum Wirtshaus Apenrose. Von dort erreicht man eine Straße, die durch den Zemmgrund bis zum Gasthaus Breitlahner verläuft. Wer zum Ausgangspunkt zurückkehren möchte, kann den Linienbus zum Schlegeisspeicher nehmen. Für diese Abstiegsvariante sollte man mindestens fünf Stunden einplanen, weshalb eine Übernachtung oft sinnvoll ist.