Auf den ersten Blick erscheint die Felswand wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ehrfurchtsvoll starre ich auf das blanke Gestein. In den darauffolgenden Sekunden verzahnen sich die Gedankenströme in meinem Kopf zu einer klaren Linie. Es ist wie bei einem Künstler, der eine weiße Leinwand vor sich hat und intuitiv zu zeichnen beginnt. Pinselstrich für Pinselstrich wandeln sich die elektrischen Impulse im Gehirn zu einer einzigartigen Komposition. Es entsteht ein roter Faden, der sich durch Felsvorsprünge und Risse zieht. Ich führe meine Hand an eine Stelle, wo sie Halt findet. Zug um Zug folge ich dem Bild in meinem Kopf. Wie ein Maler im Schaffensrausch verliere ich dabei das Gefühl für Zeit und Raum.
Inhaltsverzeichnis
Herzklopfen
Klettern ist für mich pure Ekstase. Es gibt mir die Möglichkeit, ganz in meiner Bewegung zu versinken. In verliere mich in diesen Momenten ein wenig selbst. Doch genau das ist es, was sich so gut anfühlt. Alle störenden Stimuli sind ausgeblendet und ich befinde mich in einer Art Schwebezustand. Um mich herum ragen die Felswände in die Höhe. Sicherungen gibt es hier keine. Raum für Fehler ebenfalls nicht. Der Südgrat auf den Werfener Hochthron liegt in einer Grauzone. Er ist noch keine Kletterroute, aber schon lange kein Wanderweg mehr. Wir marschieren über die Terrasse der Werfener Hütte und gelangen zu einem schmalen Trampelpfad, der uns zum Einstieg führt. Neben uns klettert gerade jemand eine ziemlich schwierige Route. „Im Vergleich dazu sieht unser Weg wie ein Spaziergang aus“, denke ich mir. Zeit, den Helm aufzusetzen. Es kann losgehen.
Berg | Werfener Hochthron 2363 m Pfarrwerfen, Salzburg |
Wandern | Schwierigkeit: alpine Route mit Kletterstellen bis III- Schwierigkeitsgrad Dauer: 7,5 Stunden Länge: 8,8 Kilometer Aufstieg/Abstieg: 1300 Höhenmeter Höhenprofil & Karte Topo Südgrat |
Hütte | Werfener Hütte Mahdegg Alm |
Anfahrt | Gebührenpflichtiger Parkplatz Unterholz Die Parkgebühr beträgt 2 Euro. (Stand 2021) Zum Google Maps Routenplaner |
Der erste Pinselstrich
Der Moment, in dem ich den Fels berühre, ist wie der initiale Farbtupfer. Es sind die ersten zaghaften Bewegungen in einem Kunstwerk aus Rinnen und Schottergelände. Den Fels unter den Fingerkuppen zu spüren, ist Nervenkitzel pur. Es fühlt sich an, als würde ich ein Tor in eine andere Welt durchschreiten. Eine, in der ich es meinen Sinnen überlasse, mich zu leiten. In der ich auf mein Bauchgefühl höre und meiner Erfahrung vertraue. Manchmal weiß ich sofort, wo ich meine Hände und Füße platziere. In anderen Momenten erscheint mir die Wand wie ein abstraktes Gemälde, in dem man nur ansatzweise erahnen kann, was sich der Künstler dabei gedacht hat. Immer wieder halte ich inne, um die beeindruckende Felsszenerie des zerklüfteten Südgrates zu bestaunen.
Kletter-Kunst im Südgrat
„Achtung Steine!“, durchstößt ein lautes Rufen die Stille. Wenn man nicht Acht gibt, verwandeln sich die geröllgefüllten Rinnen des Hochthrons schnell in gefährliche Steinschleudern. Zu unserem Glück war es diesmal nichts Schlimmes. Ein Helm bleibt dennoch Pflicht. Die Route führt mich immer tiefer in die Schluchten hinein. Die meiste Zeit über ist meine Bewegung im Fluss. Es fällt mir nicht schwer, den Fels zu lesen. Ohne viel nachzudenken positioniere ich mich so, dass ich kraftschonend nach oben gelange. Genauso wie das Malen ist Klettern ein kreativer Prozess. Schwierigere Passagen brauchen Ideenreichtum. Ich blicke auf die Wand und überlege, wie ich die naturgegebenen Strukturen miteinander kombinieren könnte, sodass am Ende ein harmonischer Ablauf entsteht. Vor meinem inneren Auge läuft ein Bild ab, das ich kurze Zeit später in die Tat umsetze.
Kopfkino
An der schwierigsten Stelle (III) baumelt ein Seil von oben herab. Ich bin ein wenig nervös. Die Angst übernimmt die Kontrolle über meinen Körper. Mein Puls wird schneller und meine Hände schwitzen. Doch die Angst ist nicht mein Gegner, sondern ein wichtiger Begleiter. Dank ihr bin ich umso konzentrierter, denn ich weiß, dass jeder Griff sitzen muss. Ich horche in mich hinein. „Du weißt, dass du es kannst“, sage ich mir. Schließlich packe ich das Seil und stoße mich vom Boden ab. Kurz und schmerzlos überwinde ich mit wenigen Zügen die steile Rinne. Die eigenen Grenzen auszuloten, sich selbst zu spüren und dem Kopf eine Auszeit zu gönnen. Nirgendwo fühle ich mich so befreit wie im Fels.
Im Banne des Felsenmeeres
Der weitere Weg führt über Schrofengelände zum Gipfel. Auch wenn man sich nun weniger im Fels bewegt, sollte man hier nicht ausrutschen. Schließlich erreichen wir das Gipfelkreuz auf 2362 Metern Höhe. Es ist zwar November, aber weil das Wetter so warm ist, tummeln sich bereits zahlreiche Gipfelaspiranten am Logenplatz. Zugegeben bin ich ganz schön froh, dass wir jetzt endlich oben sind. Es gibt keinen erhabeneren Moment, als am Gipfel zu stehen und ins Tal zu blicken.
Die Probleme verlieren an Bedeutung. Man fühlt sich demütig und dankbar, diesen Augenblick genießen zu dürfen. Aber gleichzeitig auch lebendig und frei. Genugtuung mischt sich mit innerer Zufriedenheit, während ich mich immer wieder im Kreis drehe, um jeden Winkel des Panoramas in meiner Erinnerung abzuspeichern. Hier oben herrscht ein einzigartiger Zauber, den man nur schwer in Worte packen kann, und ich genieße es, mich in diesem zu verlieren.
Landung auf dem Mond
Es ist nicht das erste Mal, dass ich im Tennengebirge unterwegs bin. Dennoch begeistert mich die Weite der Karstlandschaft immer wieder aufs Neue. Der nackte Fels erinnert an eine karge Mondlandschaft. Himmelhohe Wandfluchten, zwischen denen es nur wenige Zugänge gibt, vereinen sich zu einer Felswüste. Gerade diese Einöde ist es, die ich so faszinierend finde. Meine Augen wandern zum gegenüber aufragenden Hochkönig. Zu dieser Jahreszeit liegt die Firn- und Eisfläche der „Übergossenen Alm“ schon unter einer meterdicken Schneeschicht. Nach einer ausgiebigen Rast setzen wir die Überschreitung über den Nordabstieg fort. Vom Gipfel führt ein Steig in die zunächst steilen, aber stufig angelegten und griffigen Felsen der Nordwestflanke, in der noch Schneereste des ersten Wintereinbruchs lagern.
Zitterpartie in der Nordwand
Ich halte die Luft an. Das steile Gelände jagt mir ganz schön Respekt ein. Mein Herz schlägt wie verrückt, als ich in die gut sichtbaren Fußstapfen trete. Ich setze langsam und konzentriert einen Fuß vor den anderen, während ich versuche, nicht an die Konsequenzen eines Sturzes zu denken. Wenn man Höhenangst hat, ist dies aber leichter gesagt als getan. Meine Beine zittern und die Zweifel nagen an meiner Selbstsicherheit. Doch ich schaffe es, mich aus dem Strudel an Sorgen zu befreien und schnüre den Sack voller Ängste ganz fest zu. Schlussendlich erreichen wir einen markanten Turm, gefolgt von einem Kamin, bevor der Abstieg über schuttige Rampen und Bänder ins Throntal führt. Hier fällt nun endlich die Anspannung von mir ab.
Der felsige Part des Nordabstieges ist deutlich kürzer als der südseitige Anstieg. Über das Throntal und vorbei am Fieberhorn wandern wir bis zu jener Stelle, wo ein Drahtseil zur Thronleiter führt. Die riesige Leiter schmiegt sich an einen etwa 30 Meter hohen, felsigen Steilabbruch. Nur kurz flackert die Aufregung erneut in mir auf. „Was soll mich heute noch schrecken“, denke ich mir und klettere Sprosse für Sprosse hinab.
Wann ein Bild fertig ist, ist entscheidend von der Frage geprägt, ob in dem Bild noch etwas passieren soll. So ist es zumindest in der Kunst. Ich springe von der letzten Sprosse der Leiter. Erleichterung mischt sich mit Glückshormonen. Wir sind zwar noch nicht am Parkplatz, doch ich spüre schon jetzt dieses prickelnde Gefühl des Erfolges. Es gibt keine knifflige Stelle mehr, die mich heute noch herausfordern könnte. In diesem Augenblick erachte ich mein „Werk“ als vollendet. Und rückwirkend betrachtet, bin ich mehr als zufrieden damit.
Die gesamte Tour im Überblick:
- Parkplatz Unterholz (1092 m) – Werfener Hütte (1969 m): 2 Stunden
- Werfener Hütte – Einstieg Südgrat (2010 m): 15 Minuten
- Einstieg Südgrat – Werfener Hochthron (2362 m): 2 Stunden 15 Minuten
- Werfener Hochthron – Abzweig zum Abstieg (1960 m): 1 Stunde
- Abzweig Abstieg – Parkplatz Unterholz: 2 Stunden
Fazit zur Tour: Luftig, gespickt mit spannenden Kletterpassagen und abwechslungsreich präsentiert sich einer der begehrtesten Gipfel im Tennengebirge. Wer auf den Werfener Hochthron möchte, sollte allerdings Klettergewandtheit bzw. -erfahrung mitbringen. Es gibt bis auf ein Seil an einer Schlüsselstelle des Südgrats kaum Sicherungen. Bei Nässe sollte man den Südgrat unbedingt meiden, da die Schroffen schmierig und glatt werden und nicht gesichert werden können. Zudem herrscht akute Steinschlaggefahr, sodass ein Helm unverzichtbar ist. Beim Abstieg über die Nordwestflanke ist je nach Jahreszeit bzw. Bedingungen mit Schneeresten zu rechnen, die heikel sein können.