Unser Leben ist geprägt von Erinnerungen. Da sind die schönen und lustigen Zeilen in unserem Buch des Lebens, die unser Gemüt wie warme Sonnenstrahlen erhellen. Aber auch jene Geschichten, deren Spuren wir nur selten folgen und die wir verstaubt ganz hinten im Regal aufbewahren. Auch jedes Abenteuer am Berg hinterlässt einen Eintrag in meinem mentalen Gipfelbuch. Ich hole das Büchlein hervor und blättere einige Seiten zurück.
Inhaltsverzeichnis
Anno dazumal
Es ist der 26. Oktober 2016. Nationalfeiertag in Österreich. Ein kühler, aber trockener Herbsttag. Ich fühle tief in mich hinein und hauche den Bildern in meinem Kopf Leben ein. Plötzlich spüre ich wieder das Herzklopfen, als ich lediglich mit der Fußspitze auf dem dünnen Stahlstift stehe. Etwas ängstlich klammere ich mich mit aller Kraft an das raue Seil. Ich erinnere mich an das bunt gefärbte Festtagskleid der Bäume und das tiefblaue Wasser des Sees. An den kalten Fels, den zerklüfteten Grat und das quälende Gefühl der Angespanntheit in der steilen Wand. Ich klappe das Buch zu und blicke auf die Felsformation vor mir. Vier Jahre später stehe ich erneut hier und wage mich ein weiteres Mal in die Heimat des Drachen.
Berg | Drachenwand 1176 Meter St. Lorenz, Oberösterreich |
Klettersteig | Drachenwand-Klettersteig (C, Variante C/D) Zustieg: 30 Minuten Abstieg: 1,5 Stunden Kletterzeit: 2 Stunden Steighöhe: 385 Höhenmeter Gesamthöhe: 560 Höhenmeter |
Einkehr | Gasthof Drachenwand |
Anfahrt | Parkplatz nahe Gasthof Drachenwand Zum Google Maps Routenplaner |
Herzflattern
Zwei Eisenleitern läuten den Beginn des Klettersteiges ein. Die ersten Meter sind ein Tanz auf rohen Eiern, denn der Fels ist im unteren Bereich ziemlich nass und rutschig. Das macht mich nervös und ich spüre, wie meine Beine zu zittern beginnen. Die Zweifel fressen sich durch meinen Verstand. Skepsis lähmt meine Bewegungen und verstärkt meine Unentschlossenheit. Ein buntes Durcheinander aus Vergangenheit und Gegenwart wirbelt durch meinen Kopf. „Was ist denn nur mit mir los?“, frage ich mich.
Endlich trete ich aus dem Schatten heraus und der Fels wird griffiger. Ich fasse wieder klare Gedanken und besänftige mein Gemüt. „Schluss damit!“, katapultiere ich mich ins Hier und Jetzt zurück. Auf den nächsten Metern werde ich immer zuversichtlicher. Das prickelnde Gefühl, frei wie ein Vogel in der Wand zu klettern, umgarnt mich. Die Abenteuerlust kitzelt mir in den Fingern. Ich schiebe die Altlasten von meinen Schultern. Meine Glieder strotzen vor Energie. Intuition und Wissen verschmelzen miteinander und machen es mir leicht, mich im Kalkgestein zurechtzufinden.
Im Reich des Ungeheuers
Das Seil führt über Blockstufen die Wand empor. Flink wie ein Wiesel meistere ich die leichte Kletterei. Die Sicht auf den Mondsee liebkost meine Seele. Die Zeit kommt zum Erliegen. Das Farbenwunder des Herbstes bringt mich zum Staunen. Alle Sorgen blitzen in solchen Momenten ab. Ruhe und Gelassenheit leiten mich zum „Gamserl Garten.“ „Die schwierigsten Stellen kommen noch“, drossle ich meine Euphorie. Schließlich ist es soweit. Der bisher recht friedliche Drache zeigt sich kämpferisch. Die „Weiße Verschneidung“ und die „Graue Platte“ fordern zum Duell. Unbeeindruckt von den Gebärden des Lindwurms trete ich einige Schritte nach vorne. Stahlstifte und Tritte im Fels geben mir Halt, während ich mich mit den Armen am Seil kraftvoll hochziehe. Meine Entschlossenheit behält die Oberhand und erstickt die Furcht im Keim. Instinktiv bewege ich mich durch die Felswand, lege mein tiefstes Vertrauen in jeden meiner Züge.
Höhenrausch
Bei der Franzosenschanze teilt sich die Route in die steile Pfeilerwand und die Variante über die Seilbrücke. Ich entscheide mich für letztere. Zaghaft setze ich den ersten Schritt auf die 20 Meter lange Überführung. Der Takt meines Herzschlags beschleunigt sogleich. Meine Hände schwitzen. Ich presse die Lippen zusammen. Beim Blick in die bodenlose Tiefe läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Doch das Adrenalin versetzt mich gleichzeitig in einen betörenden Rauschzustand. Die wunderbare Erregung überflutet mein Gehirn und betäubt meine Ängste. Schließlich erreiche ich das Ende der Brücke, wo ein Bankerl in luftiger Höhe zur Rast einlädt.
Über den wilden Zackengrat verläuft der weitere Weg zur Gipfelwand. Der Drache zeigt sich unbeeindruckt, als wir über seinen gezackten Rückenkamm balancieren. Imposante Tiefblicke auf Mond- und Attersee liebkosen mein Herz. In der Ferne zeigt sich die markante Gipfelspitze des Schafberges. Die mittelschwere Gipfelwand stellt kein Hindernis mehr für mich dar. Ich schlängle mich vorbei an den Felsspitzen und stehe schlussendlich am Kopf des Drachen. Dieser zuckt jedoch nicht mit der Wimper und so feiern wir den Sieg über das Fabelwesen bei einer wohlverdienten Rast.
Mit dem Kopf durch den Fels
Während dem Aufstieg und am Gipfel treffen wir nur sehr wenige Bergsteiger. Dies liegt womöglich an der Jahreszeit sowie daran, dass wir wochentags und sehr früh unterwegs sind. Üblicherweise wird der Steig pro Jahr von 15.000 bis 20.000 Kletterern begangen, an manchen Tagen sind es bis zu 600 Personen. Wir genießen die friedvolle Stille und machen uns nach einer ausgiebigen Rast zum Abstieg bereit. Dabei passieren wir das Drachenloch, eine geologische Besonderheit. Dieses soll einer Sage zufolge entstanden sein, als der Teufel mit der Pfarrersköchin zu tief flog und deshalb durch den Fels krachte. Er habe sie geholt, da sie das Tanzverbot in der Fastenzeit missachtete. Die Drachenwand selbst war einst der Unterschlupf eines grausamen Drachens, der von einem tapferen Ritter zur Strecke gebracht wurde.
Die Rache des Drachen
Der Abstieg führt über den Hirschsteig, einen alpinen Steig, der sehr ausgesetzt und teilweise mit Stahlseilen und langen Eisenleitern gesichert ist. Ein kurzer Gegenanstieg, die sogenannte Rache des Drachen, lässt meine Waden ein letztes Mal pulsieren. Der knifflige Waldsteig mit seinen abschüssigen Fels- und Wurzelpassagen verlangt mir vollste Konzentration ab. Sachte setze ich einen Fuß vor den anderen und klettere die steilen Leitern hinab. An mehreren Stellen bin ich dankbar für das haltgebende Stahlseil und meine Klettersteig-Ausrüstung. „So schwierig habe ich den Abstieg gar nicht in Erinnerung“, stelle ich fest. Schließlich haben wir es geschafft und nähern uns dem Parkplatz.
Kletterspaß mit Tücken
Ich blicke nochmals hoch zur Drachenwand. Mit geschickten Tritten und Griffen konnte ich mich bis zum Drachenschlund vorkämpfen und schließlich den Gipfel erobern. Blitzartig wird mir bewusst, wie leicht mir diesmal der Aufstieg im Vergleich zu damals gefallen ist. Diese Erkenntnis erfüllt mich mit Stolz. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würde ein Luftballon darin beginnen, aufzusteigen. Vor lauter Freude könnte ich in diesem Moment vom Boden abheben. Meine Lippen formen sich zu einem Lächeln. Ein warmes Gefühl steigt von den Zehenspitzen in mir hoch. Ich spüre ein Prickeln, als würden tausend Ameisen über meine Haut krabbeln. Die Szenen der vergangenen Stunden spielen sich wie ein Film vor mir ab. Immer wieder spule ich zurück, um in den wunderbaren Eindrücken zu verweilen.
Fazit zur Tour: Der Drachenwand-Klettersteig ist einer der beliebtesten Klettersteige im Salzkammergut und hat mich auch bei der zweiten Begehung absolut begeistert. Seine gute Erreichbarkeit, die mittlere Schwierigkeit gepaart mit fantastischen Panorama-Blicken machen ihn zu einem der schönsten Klettersteige Österreichs. Nichtsdestotrotz kommt es immer wieder zu Einsätzen der Bergrettung und auch Todesfällen, oftmals im Bereich des Hirschsteiges. Hauptgründe sind Selbstüberschätzung bzw. mangelnde Kondition, gefolgt von unzureichender Ausrüstung, fehlender alpiner Erfahrung und einsetzender Höhenangst. Nur wer über die notwendige Erfahrung und das richtige Equipment verfügt, sollte sich in einen solchen Klettersteig begeben. Auf der Website des Alpenvereins Mondsee findet ihr ein Video, in dem die Schwierigkeit des Abstiegs nochmals im Detail gezeigt wird.
Hier geht’s zum Video